Neues aus den Unterklassen: Hartz-IV-Empfänger härter bestraft als Straftäter

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Von Susan Bonath von rt.com

Sozialverbände, Richter, Anwälte und Gewerkschafter halten Hartz-IV-Sanktionen für verfassungswidrig. Der Staat verteidigt dagegen auch harte Strafen vehement. Sie seien nötig, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen.

Nicht jeder besteht auf dem Arbeitsmarkt, nicht jeden benötigt er. Ungeachtet dessen drangsaliert der Gesetzgeber Erwerbslose und Geringverdiener mit einem riesigen, teuren und strafenden Apparat. Jobcenter sanktionieren jährlich fast doppelt so viele Menschen wie sie und die Arbeitsagenturen zusammen in Arbeit vermitteln. Alleine im Jahr 2016 kürzten oder entzogen sie 416.000 Menschen 940.000 Mal jeweils drei Monate lang das Existenzminimum. Betroffen war damit erneut ein Zehntel aller erwerbsfähigen Leistungsbezieher. Nicht nur Erwerbslosen- und Sozialverbände halten das für verfassungswidrig. Auch Gewerkschafter, Richter und Anwälte teilen diese Ansicht inzwischen.

Das geht aus Stellungnahmen an das Bundesverfassungsgericht hervor, die der Autorin vorliegen. Die Karlsruher Richter hatten sie angefordert. Sie wollen in diesem Jahr entscheiden, ob das seit zwölfeinhalb Jahren praktizierte Hartz-IV-Sanktionsregime mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Sozialgericht im thüringischen Gotha hatte das oberste deutsche Gericht angerufen. Es sieht das Sozialstaatsgebot sowie die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und die freie Berufswahl verletzt.

Härter bestraft als Straftäter

Immerhin weisen 13 der insgesamt 19 stellungnehmenden Institutionen auf bestehende Anhaltspunkte für teils schwerwiegende Verfassungsbrüche hin. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) saß noch vor 15 Jahren selbst in der Kommission unter Peter Hartz, welche die Agenda 2010 zu Papier brachte. Nach bisher zögerlicher Kritik äußert er sich nun erstmals drastisch:

“Eine Sanktion, die im Fall eines schweren Verbrechens verfassungswidrig wäre, kann im Fall von Obliegenheitsverletzungen, die nicht einmal Ordnungswidrigkeiten darstellen, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als zulässig oder verhältnismäßig gelten.”

Dazu führt der DGB ein Urteil des Höchstgerichts aus dem Jahr 1977 an, wonach der Staat die Pflicht hat, auch Strafgefangenen ein Anrecht auf Obdach, Nahrung, Kleidung, medizinische Betreuung und Teilhabe zu ermöglichen. Selbst das Begehen schwerster Verbrechen führe nicht zum Verlust ihrer Menschenwürde, heißt es darin.

Im Gegensatz dazu ahnde das Sozialrecht missliebiges Verhalten wie einen verpassten Termin, zu wenige Bewerbungen oder die Ablehnung von Maßnahmen oder Jobs mit dem Entzug des Existenzminimums, so der DGB. Letzteres habe der Gesetzgeber aber mit Hartz IV berechnet. Folglich dürfe er es nicht unabhängig vom tatsächlichen Bedarf kürzen. Der von den Machern der Agenda 2010 ins Feld geführte Ausgestaltungsspielraum ende dort, wo die Bedürftigkeit beginnt.

Physischer Grundbedarf gestrichen

Auch der Deutsche Sozialgerichtstag hält “an seiner früheren Einschätzung nicht fest”. Er habe festgestellt, dass es verfassungswidrig sei, den physischen Bedarf zu kürzen. Bei Kürzungen um mehr als 30 Prozent sei dies immer der Fall, betonten die Richter. Die im Gesetz genannten Sachleistungen bei hohen Sanktionen sicherten die Menschenwürde nicht. Denn gerade das sei nie überprüft worden.

Die Sachleistungen bestehen aus Gutscheinen für Lebensmittel, in Einzelfällen auch Hygienebedarf, wie Paul Ebsen von der Bundesagentur für Arbeit (BA) gegenüber der Autorin ausführte. Bei einer Totalsanktion könnten Jobcenter diese maximal bis zum Wert des halben Regelsatzes gewähren. Bei einem Alleinstehenden sind das 205 Euro.

Doch erstens sind die Gutscheine keine Pflichtleistung. Zweitens nimmt sie nicht jeder Supermarkt an. Drittens können Betroffene davon weder Miete und Heizkosten noch Strom bezahlen. Laut einem Karlsruher Urteil aus dem Jahr 2010 gehört dies aber zum physischen Grundbedarf.

 

Ebsen weicht aus: Strom könne bei angedrohter Stromsperre direkt an den Energieversorger gezahlt werden. Wenn sich Betroffene nachträglich bereiterklärten, “ihre Pflichten zu erfüllen”, könnten Sanktionen abgemildert und die Miete wieder gezahlt werden. Ansonsten sei dies noch bei angedrohter Zwangsräumung möglich – jedoch nur als Darlehen. Das heißt: Betroffene müssen das Geld später abstottern.

In Prostitution und Kriminalität gedrängt

Auch die menschlichen Aspekte erwähnt der Sozialgerichtstag: Viele Sanktionierte seien körperlich und seelisch gar nicht in der Lage, verlangte Auflagen zu erfüllen. Dies aber interessiere die Behörden nicht.

“Vielmehr unternehmen Jobcenter in einer äußerst komplexen Lebens- und Problemlage den Versuch, ein bestimmtes Verhalten durch den Einsatz eines Drohszenarios und Zwangs sowie der Inkaufnahme einer Mangelsituation zu bewirken”,

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mahnte der Sozialgerichtstag. Vor allem junge Erwerbslose verzweifelten daran. Einige würden obdachlos. Mangelnde Ernährung werde zur Gefahr. Manche glitten auch ab in Prostitution oder Kriminalität, um sich über Wasser zu halten. “Das steht in keinem Verhältnis zum Schutzgedanken für die Gemeinschaft”, appellierten die Richter an ihre Kollegen in Karlsruhe.

Psychisch Kranke häufiger bestraft – Sippenhaftung für Angehörige

Der Deutsche Anwaltsverein sieht es ähnlich. Jobcenter schikanierten vor allem psychisch Beeinträchtigte, Suchtkranke, Jugendliche mit massiven persönlichen Problemen und sogar Schwerbehinderte, konstatierte er. Betroffene seien oft gar nicht in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Jobcenter sanktionierten Alleinerziehende, weil sie Schichtarbeit ablehnten oder nötigten Depressive zu einem Job, den sie nicht ausüben können.

“Es besteht der Eindruck, dass gerade bei verhaltensauffälligen Menschen nicht selten sachfremde Erwägungen des Sachbearbeiters hinter einer Sanktion stehen”,”

rügten die Juristen und betonten: Bedürftige Familien, die sanktionierte Angehörige nicht verhungern lassen wollten, würden immer mit bestraft. Diese Sippenhaftung führe bei allen Beteiligten “regelmäßig zu einer deutlichen Verschlimmerung ihrer Lage”.

Bestimmtes Verhalten erzwingen

Doch Schicksale interessieren weder Bundesregierung und Arbeitsagentur noch Vertreter der Wirtschaft sowie den Landkreis- und Städtetag. Deren Stellungnahmen lassen tief blicken.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Andrea Nahles (SPD) erklärt die Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs zum Beispiel, im Sozialrecht deklarierte Auflagen an Hartz-IV-Bezieher stünden als gleichwertiges Interesse der Menschenwürde gegenüber. Kürzungen des Existenzminimums bis auf null seien legitime

“Instrumente, die ein bestimmtes Verhalten des Leistungsberechtigten unterbinden oder erzwingen sollen.”

 

Konkret: Die Regierenden billigen nur gehorsamen Erwerbslosen Grundrechte zu. Beugten sich Betroffene nicht dem Rechtsgehorsam, sei dies ihr eigener Wille, so die BMAS-Anwälte. Denn: “Staatliche Maßnahmen zur Erzwingung eines vorgeschriebenen Verhaltens gehören zum etablierten Normenbestand.”

Minimum vom Minimum?

Zwar hat die Bundesregierung die Hartz-IV-Sätze als Minimum berechnet, die genannte Kanzlei, die im gegenständlichen Verfahren die öffentliche Hand vertritt, verneinte dies aber. Der unabweisbare Bedarf liege weit darunter, meinen sie, ohne eine Summe zu nennen. So sieht es auch die Arbeitsagentur. Sie klopfte sich zudem selbst auf die Schulter. Dass “nur” 37 Prozent der Widersprüche und rund 40 Prozent der Klagen zugunsten der Leistungsberechtigten entschieden würden, zeuge von einer “erfreulich geringen Fehlerquote”.

Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) lobte darüber hinaus die härteren Sanktionen für 15- bis 24-jährige Erwerbslose. Ihnen droht beim geringsten Fehlverhalten sofort eine 100-Prozent-Kürzung. Gerade diese Gruppe dürfe nicht die Erfahrung machen, dass die Solidargemeinschaft ohne Gegenleistung für sie aufkomme, mimte die BDA die schwarze Pädagogin. Auch der Landkreistag findet den gesamten Strafkatalog “sozialpolitisch notwendig”. Der Städtetag befürchtet lediglich, ein Wohnungsverlust könne am Ende die Vermittlung in Arbeit hemmen.

8 Comments

  1. (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

    Dabei hat die Menschenwürde noch keine staatliche Gewalt interessiert.

    “If you want a vision of the future, imagine a boot stamping on a human face – forever.” – George Orwell

  2. Die Bescheide werden in nur so “geringer” Zahl zugunsten der Leistungsberechtigten entschieden, weil, wenn festgestellt wird, durch einen Überprüfungsantrag z.B., dass der Leistungsberechtigte im Recht ist, ihm das Recht (verspätet, also nach Bearbeitung des Überprüfungsantrages) erfüllt wird und somit der Überprüfungsantrag zurückgewiesen wird, da die zu überprüfenden Bedingungen ja nicht mehr gegeben sind.

    Ist mir persönlich, nunmehr vor 6-7 Jahren so gegangen. Hab bei meinen Eltern gewohnt, allerdings nicht zur Untermiete – ging nicht, hätte ich ein eigenes Bad zur Verfügung haben müssen. Ich hatte dann beim Amt KEINE Unterstützung für die Miete, sondern nur Nebenkosten beantragt. Die NK lagen über dem Durchschnitt – insgesamt aber die Kosten für Unterkunft weit unter dem Durchschnitt (<200€), da die Miete an sich ja wegfiel. Wochen später bekam ich dann den Ablehnungsbescheid zum Überprüfungsantrag mit Bezug auf die im SELBEN Brief befindliche Anerkennung meines eigentlichen Wohngeldantrages.

    Und wenn mehr als ein Drittel der Widersprüche zugunsten der Leistungsberechtigen gehen, dann wäre das schon viel zu viel. Die Dunkelziffer liegt allerdings vielmehr bei 80%-90%.

  3. Ein Behindertenausweis muss reichen um was bei Der Tafel und anderen Lebensmittelausgaben was kriegt, dass Behinderte endlich Mindestlohn kriegen und nicht nur 69 Cents die Stunde in Werkstätten, und auch dass Behinderte auch auf normalen Arbeitsstellen eingestellt werden müssen: Indem das Nichteinstellen von einem Behinderten ein Unternehmen das Dreifache eines Bruttoarbeitslohn kostet. Es geht nicht dass Behinderte ihr Leben lang “auf Alles” verzichten müssen , weil der Staat unterstellt die Verwandtschaft käme für die Versorgung auf, was Behinderte wegen der Beziehungen nicht drum bitten können

  4. eine Frechheit, diese Leute haben jeglichen Sinn für die Realität verloren. Die niedrigste Arbeitslosenquote, ja zu welchen Preis, auf wessen Kosten? Zeitarbeitsfirmen, befristete Verträge, Billiglohn, kenne dies aus eigener Erfahrung. Die Industrie, Lobbyisten und “unsere” Politiker stopfen sich ungeniert die Taschen voll und reden solch einen Müll. Es ist ein Schlag ins Gesicht jedes Menschen, der ehrlich seinen Job macht und versucht einigermaßen klar zu kommen.

  5. Damit nicht genug werfen diese Arbeitsagenturen zusätzlich Geld der Steuerzahler aus dem Fenster, da viele sich das nicht bieten lassen und vor Gericht gehen. Sehr oft wird ihnen das Gestrichene zuerkannt, d.h. daß ungerechtfertigt gestrichen wurde. Die Gerichtskosten trägt der Steuerzahler. Billiger und gerechter (vom Menschlichen ganz abgesehen) wäre es, gleich ungekürzt die “Immensen Summen” weiterzuzahlen. Das System ist so ausgelegt, daß man eh bei HZ4 landet und der Minimalst- Rente.

  6. Das bedngungslose Grndeinkommen, die logische Antwort auf den Absched von der Utopie der Vollbeschäftigung wird kommen, und damit all diese entwürdigenden Szenen in die Archive und Geschichtsbücher verweisen. Wann es so weit ist? Vielleicht viel schneller als erträumt. Dieses Jahr steht es erstmals bundesweit auf den Wahlzetteln am 24.9.. Das Bündnis Grundenkommen ist wählbar.

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